Verzweifelt
krallen sich die Erinnerungsfetzen der letzten Tage und Wochen an den
Synapsen fest. Das Sortieren fällt ihm schwer. Die Datenträger sind
gefüllt mit wilden, bunten Bildern und viel Alkohol. Der Kopf beginnt
zu schmerzen. Oder liegt das noch an der Ohrfeige? Der Reihe nach…
Die
ersten Erinnerungen sind durchaus positiv. Und das trotz eines Musicals.
Oder gerade deshalb? Auf der Reeperbahn abends um acht. Geht auch. Sogar
mit Mädel. Aufgrund der straff organisierten Agenda sieht er sich
gezwungen,
innerhalb von gut vierzig Minuten 0,8 Liter Irischen Gerstensaft in
sich zu stürzen. Schmeckt und klappt aber ganz gut. Der Magen kann nur
müde lächeln, die Leber registriert es beinahe gar nicht. Nur ein einziges
Organ beschwert sich: die Blase. Doch wie schon
oft viel zu spät.
Er
sitzt bereits im Theater, ein schwer zu beschreibender Signalton hat gerade
lautstark den nahenden Beginn der Aufführung proklamiert. Wann mag wohl
Pause sein? In einer Stunde? Oder später? Die Blase signalisiert ihm
unmissverständlich,
dass er nicht mehr so viel Zeit hat. Seiner weiblichen Begleitung
entgeht die Notsituation nicht. Sie nutzt die Vorteile des Gangplatzes
und erkundigt sich hilfsbereit bei einem vorbeiziehenden
Theater-Angestellten nach der Herrentoilette. An vielen Orten
dieser Welt eine völlig unauffällige und legitime Frage, die zumeist
eine direkte Antwort folgen lässt. Im St. Pauli Theater jedoch löst sie
einen Sturm an Gedankengängen aus, was sich im Gesicht des Befragten gut
lesbar widerspiegelt. Offenbar widerwillig
und mühsam versucht das angesprochene Gehirn eine Verbindung zwischen
der Frau und der Herrentoilette herzustellen. Die Gedanken scheinen sich
anfangs auf hochkomplizierte, medizinische Eingriffe zu fokussieren
sowie im späteren Verlauf um unanständige Unternehmungen
mit dem Sitznachbarn zu drehen. St. Pauli eben. Der Angestellte kommt
zu keiner richtigen Lösung und antwortet daher ganz pauschal: „Aber
jetzt nicht mehr. Und wenn, dann da hinten!“, dabei auf den Ein-
beziehungsweise Ausgang zeigend. Der Weg war holprig,
aber das Ziel wurde erreicht. Erstaunlich viele Minuten später, das
letzte Ultimatum der Blase ist fast abgelaufen, begibt er sich eilig zum
nunmehr bekannten Standort des Sanitärbereichs. Als er erstaunlich wenige
Minuten später an seinen Platz zurückkehrt, unterhält
sich eine der Hauptpersonen auf der Bühne mit einem Transvestiten.
Luna, Miguel und der Rest - Zusammen "Linie S1" |
Zeit
für Kultur. In dem Musical „Linie S1“ geht es um einen typischen
Hamburger Jung namens Miguel (!), der sich während der Fahrt mit der
S-Bahn Linie 1 quasi auf den ersten Blick in die Hamburgerin Luna (!)
verliebt. Na
ja.
Doch
was anfangs etwas banal und märchenhaft daher kommt, erweist sich im
weiteren Verlauf als durchaus realistische und bisweilen sozialkritische
Darstellung Hamburgs. Von dem ganzen Singsang mal abgesehen. Motive wie
Immobilien-Spekulationen,
Gewalt, sozialer Abstieg, Armut, Prostitution, Transsexualität und
sogar die Elbphilharmonie werden recht unverblümt thematisiert. Dreh-
und Angelpunkt ist dabei die namensgebende S1, mit deren Hilfe die
verschiedenen Haltestellen beziehungsweise Schauplätze
des Musicals „angefahren“ werden: Blankenese, Berliner Tor, Ohlsdorf,
Hauptbahnhof, Hamburg Airport, Landungsbrücken und natürlich die
Reeperbahn.
Das
Stück legt dabei ein rasantes Tempo vor. Bühnenumbauten werden kreativ
und gekonnt in die Darbietungen eingebaut, der Vorhang fällt nur zur
Pause und am Ende.
Besonders
gelungen und daher an dieser Stelle gesondert zu nennen, sind die
tänzerische Darstellung des Arbeitsalltages einer Prostituierten sowie
die Episode „Was passiert, wenn man alleine und wartend vorm Hauptbahnhof
steht“.
Auch
musikalisch ist die Vorstellung in der Breite gut aufgestellt. Die
Lieder stammen zwar überwiegend aus der Feder Hamburger Interpreten oder
handeln wenigstens von Hamburg, doch die Palette erstreckt sich von
Hans Albers
über Udo Lindenberg bis hin zu Sammy Deluxe. Die Töne dazu kommen live
von einer sechsköpfigen Band, die sich direkt vor der Bühne versteckt.
„Linie S1“ wird an wenigen, ausgewählten Tagen noch bis zum 07. Februar 2014 im St. Pauli Theater zu sehen sein.
Ja,
ja, die Bahn. Ein durchaus großer Erinnerungsbrocken schiebt sich
plötzlich ganz nach vorne. Ungewohnt häufig vernahm er in letzter Zeit
„Live-Durchsagen“ von Zugführern, die sich selbst neuerdings „Zugfahrer“
nennen.
Spontan verleiten diese Eindrücke zu einer Hitliste:
Platz 3: „Die Fahrradmitnahme ist erst ab 18 Uhr gestattet“
Begründung
der Jury: Bereits oft und vielfältig haben Zugführer a.k.a. Zugfahrer
die Passanten mit Einstiegsabsichten darauf hingewiesen, dass Fahrräder
zu bestimmten Zeiten, den sogenannten Stoßzeiten (auch Rushhour),
nicht mitgeführt werden dürfen. In der Regel griff man hier bislang auf sehr saloppe und knappe Ausrufe, wie zum Beispiel „Das Fahrrad
bleibt draußen!“ zurück.
„Die
Fahrradmitnahme ist erst ab 18 Uhr gestattet“ bedient sich hingegen
eines völlig neuen und erfrischenden Jargons und scheint dadurch in der
Wirkung noch effektiver.
Platz 2: „Bitte benutzen sie auch die anderen Eingänge“
Begründung
der Jury: Ein Satz, viele Aussagen. In erster Linie möchte der
Zugführer die panische und drängelnde Meute lediglich darauf hinweisen,
dass es viele verschiedene Zugänge zum Schienenfahrzeug gibt. Im Subtext
übermittelt
er damit gleichzeitig, dass die Eingänge unterschiedlich stark
frequentiert sind und regt an, die persönliche Auswahl vielleicht noch
mal zu überdenken. Des Weiteren werden zur selben Zeit praktisch alle
Fahrgäste darüber informiert, dass es einen hohen Andrang
auf das Fahrzeug gibt und sich die Weiterfahrt möglicherweise verzögern
wird.
Ist die Wichtigkeit dieser Ansage auch zweifelhaft, so gibt es über ihre Vielfältigkeit keine zwei Meinungen.
Platz 1: „Bitte zurückbleiben, bitte“
Begründung
der Jury: Ein Klassiker neu interpretiert. Die Mutter aller Ansagen
„Zurückbleiben, bitte“ kann sicher jedes Kind mitsprechen. Dieser Ausruf
hat sich so sehr verinnerlicht, dass seine Bedeutung schon fast in
Vergessenheit
geraten ist. Mit dem Sequel „Bitte zurückbleiben, bitte“ ist ein
gelungenes Remake entstanden, welches die Empfindungen beim Hörer völlig
neu gestaltet und dennoch das Original praktisch kaum verändert hat.
Selbst Sprachwissenschaftler haben diesen Titel zur
Diskussion gemacht und wähnen bereits die Entdeckung eines neuen
Wortes: „zurückbleibenbitte“ – das Zurückbleiben nach höflicher
Anordnung.
Wortwörtlich heißt es
in der Urteilsbegründung der Jury: „Kritiker deuten hier die
Unfähigkeit, etwas Neues auszuprobieren. Noch während des halbherzigen
Versuches verfällt der Interpret in das altbekannte Schema. Doch die
Jury sieht hier die gelungene Neuauflage eines Evergreens, der es
gelingt, das Original weitestgehend unberührt zu lassen und die Wirkung
beim Hörer dennoch gänzlich zu verändern. Nicht wenige werden ob der
ungewohnten Klänge innehalten und der Anordnung somit
unbewusst Folge leisten.“
Zurück
zur Reeperbahn. Neue Erinnerung. Diesmal Samstag. Spät. Mit dem Kumpel
mal wieder unterwegs. Zwei Männer, die sich bereits erfolgreich bis zur
Fahruntauglichkeit getrunken haben, betreten optimistisch gestimmt eine
nicht minder gut gefüllte Bar auf der Großen Freiheit. Schon alleine
aufgrund der vorherrschenden Platzproblematik ist der Kontakt zu anderen
Menschen unausweichlich. Ist nicht immer schön, aber heute haben sie
Glück. Sie geraten an eine ihnen zahlenmäßig deutlich
überlegene aber überwiegend friedlich gestimmte Gruppe Frauen aus
Irgendwo. Einige von ihnen sind auch aus Irgendwodavor. Sie heißen Lisa,
Laura, Lara oder so. Egal. Nette Runde. Es wird viel geredet, viel
gelacht und viel getrunken. Und plötzlich passiert es.
Es trifft ihn völlig unerwartet. Von rechts. Diese kleine Lisaoderso
zieht voll durch. Für einen kurzen Moment sieht er nichts, danach blickt
er in erstaunte Gesichter. Spontan will er ihnen zurufen: „Was soll ICH
denn erst sagen???“
Dieses
Lisading steht auf wackeligen Beinen, glotzt ihn an und grinst. Bis
eben war sie ihm noch ganz sympathisch. Er geht zielstrebig auf sie zu,
sie weicht energisch zurück. Nach ein paar Schritten Stillstand. Er
beugt
sich leicht auf Augenhöhe hinunter und fragt überraschend ruhig: „Hast
du mich gerade geschlagen?“ Der Lisanator weicht seinem Blick aus aber
antwortet zögerlich: „Kann sein.“
Volltreffer! Quelle: welt.de |
Faszinierend.
Besonders fasziniert ihn auch, dass diese ganze Situation offenbar
keinen der anwesenden Menschen interessiert. Er versucht sich
auszumalen, was wohl geschehen wäre, wenn es anders herum abgelaufen
wäre. Wenn
er diesem kleinen Giftzwerg eine gelangt hätte. Einfach so. Oder wenn
er ihr jetzt, in diesem Moment, eine auf die zwölf geben würde.
Vermutlich würden sich die umstehenden Damen allesamt auf ihn stürzen,
die künstlichen Fingernägel ins Genick rammen und sich
am Hals festbeißen. Daraufhin würden ihn dann die Türsteher an den
Haaren hinaus schleifen, dabei wie zufällig die Arme brechen und vor dem
Ausgang an die bereits wartenden Polizeibeamten übergeben.
Er
belässt es bei einer mündlichen Ermahnung aber lässt die Verrückte
nicht mehr aus den Augen. Glücklicherweise räumt sie alsbald das Feld
und belästigt fortan die Männer im Eingangsbereich. Von einer anderen
Lisaodersoähnlich
erfährt er nur noch, dass die soeben erlebte Aktion von Liszilla wohl gar nicht so ungewöhnlich
für sie war. Na dann.
Kurze Rückfrage ans Hirn: war noch was? Nicht?
Reicht ja auch.
Herrlich erfrischend. :D Als wäre man dabei gewesen, bitte, bitte mehr davon.
AntwortenLöschenLG
ACunicorn
Moin ACunicorn!
LöschenAlso auf weitere Ohrfeigen kann ich gut verzichten ;)
Aber danke für das positive Feedback. Zum nächsten Kiezbummel nehme ich Euch, literarisch gesehen, natürlich wieder mit...